Chancengleichheit und Inklusion

1933: Im nationalsozialistischen Deutschland wird am 14. Juli das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erlassen. Bis Kriegsende werden bis zu 200.000 Menschen getötet, die als geistig und körperlich behindert diagnostiziert werden, darunter auch Stuttgarter Kinder.  

1936: Der Verwaltungsbericht der Stadt der Auslandsdeutschen Stuttgart für 1936 führt auf, dass sich im Jugendamt eine wichtige organisatorische Änderung ergeben hat. Eine „besondere Erziehungsabteilung“ wird aufgebaut, zu der neben der Erziehungsberatung auch die Erziehungshilfen für gefährdete und verwahrloste Jugendliche gehören, die Einleitung von Erziehungsmaßnahmen, die Erfüllung der Aufgaben der Jugendgerichtshilfe und mehr: „Außer dem Gebiet der Erziehungsberatung und Erziehungsfürsorge hat die Erziehungsabteilung auch die Aufgabe, die beim Wohlfahrtsamt bekannt werdenden Fälle von Erbkrankverdächtigen mit den nötigen Unterlagen an das Gesundheitsamt zu melden.“ Damit wird das Jugendamt zum Mittäter, denn diese Meldung kann den Tod der Kinder bedeuten. „Bisher wurden 586 Fälle dem Gesundheitsamt zugeleitet.“ 

1962: Zum 1. Juni tritt das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) in Kraft, in dem auch die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung geregelt wird. Nach § 39 Abs. 3 BSHG ist es die Aufgabe der Eingliederungshilfe, „eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine vorhandene Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und dabei dem Behinderten die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern“.   

1962–1965: Auf der Grundlage dieses Gesetzes entstehen in Stuttgart Rehabilitationseinrichtungen für behinderte Kinder und Jugendliche unter der Trägerschaft des Jugendamts: 1962 eröffnet in Vaihingen ein „Sonderkindergarten für rund 50 noch nicht schulpflichtige körperbehinderte Kinder“. 1964 wird im Bezirk Stuttgart-West ein „Sonderkindergarten für zehn bis zwölf hör- und sprachgeschädigte Kinder“ eingerichtet und 1965 entsteht eine Kindergartenabteilung für geistig behinderte Kinder, die dem Hort für geistig behinderte Kinder angeschlossen ist. Zusätzlich fördert das Jugendamt private Träger von Sondereinrichtungen ebenso wie Vereinigungen von Eltern behinderter Kinder in Stuttgart.

2000: Mit der Pluralisierung und Öffnung der Gesellschaft wächst das Bewusstsein und mit ihm der Wunsch vieler Eltern, dass ihr Kind mit Behinderung in einer Regeleinrichtung betreut werden soll. Das Jugendamt Stuttgart befasst sich bereits seit Beginn des neuen Jahrtausends mit der Erziehung und Bildung von Kindern mit Behinderung in den städtischen Kindertageseinrichtungen. 

2007: Das Jugendamt veröffentlicht den „Leitfaden Integration von Kindern mit Behinderung in städtischen Tageseinrichtungen, Unterstützung und Beratung“. Im Vorwort heißt es: „Wir wollen auf kein Kind verzichten – kein Kind darf deshalb aufgrund seiner Behinderung oder Einschränkung aus einer Tageseinrichtung für Kinder, der ersten Bildungseinrichtung, ausgeschlossen werden.“ Und weiter: „Eltern wünschen sich eine wohnortnahe Bildung, Betreuung und Unterstützung ihres Kindes. Die Kinder wollen mit ihren Freunden und Nachbarn in die gleiche Einrichtung gehen. Die wohnortnahe Integration ist deshalb die Regel.“ 

2009: In Deutschland tritt die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Kraft, in der die Vertragsstaaten das Recht auf inklusive Bildung anerkennen. Dieses Recht bezieht sich auch auf die frühkindliche Bildung und bedeutet, dass es nicht mehr nur darum geht, ein Kind mit Behinderung in eine Regeleinrichtung zu integrieren und an Bestehendes anzupassen. Vielmehr ist die Einrichtung von vornherein so gestaltet, dass alle Kinder gleichberechtigt teilnehmen können. Das Jugendamt Stuttgart hat sich zum Ziel gesetzt, Inklusion nicht nur in den städtischen Tageseinrichtungen, sondern in allen Kindertageseinrichtungen in Stuttgart zu leben. 

2017: Unter Federführung des Stuttgarter Jugendamts startet in einer ämterübergreifenden Arbeitsgruppe die Entwicklung des Gesamtprogramms „Kita für alle in Stuttgart“ mit dem Ziel, innovative Wege der Inklusion zu beschreiten und neue Strukturen aufzubauen. 

2019: Mit der Gemeinderatsdrucksache 84/2019 beschließt der Gemeinderat die Umsetzung des Programms „Kita für alle in Stuttgart“ ab 2020. 

2020: Drei städtische Kindertageseinrichtungen starten ab September modellhaft als inklusive Einrichtungen mit struktureller Förderung.

2004: Vier Kitas setzen den Ansatz zur vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung um mit dem Ziel, wirklich allen Kindern Bildungsprozesse zu ermöglichen. Seitdem machen sich Jahr um Jahr weitere Kitas auf den Weg zu einem inklusiven Denken und Handeln. 

Gemäß den Leitsätzen „Alle Kinder sind gleich“, was ihre Rechte auf Entfaltung und Bildung, auf Identität und Schutz angeht, und „Jedes Kind ist besonders“, was seine Voraussetzungen, seinen Weltzugang, seine Familienkultur angeht, verzichtet der Ansatz darauf, Kinder und ihre Familien zu stigmatisieren oder ihre Bildungsansprüche zu hinterfragen. Vielmehr nimmt er Facetten von Vielfalt und gleichzeitig Mechanismen von Ausgrenzung und Diskriminierung in den Blick. 

In der praktischen Umsetzung des Ansatzes wird sicht- und spürbar, dass die Lernumgebung, die Interaktion mit Kindern, die Zusammenarbeit mit Eltern und die Zusammenarbeit im Team verstärkt vorurteilsbewusst gestaltet ist.