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Landeshauptstadt Stuttgart

Presse

Statistisches Amt stellt Nichtwählerstudie vor

Das Statistische Amt stellt im neuen Monatsheft Nr. 1 auf der Grundlage der 11. Stuttgarter Bürgerumfrage im Jahr 2015 sowie wahlstatistischer Eckdaten eine umfassende Nichtwählerstudie vor. Thematischer Schwerpunkt sind die Gründe und Motive der Nicht-Wahl am Beispiel der letzten Gemeinderatswahl im Mai 2014. Rund 3700 Personen beteiligten sich an der Befragung.

Der Studie zufolge ist die zurückgehende Wahlbeteiligung seit Mitte der 1970er-Jahre nahezu ausnahmslos bei jeder Wahl zu beobachten. Die Stadt Stuttgart selbst kann sich von diesem Trend nur insofern absetzen, als die Wahlbeteiligung hier weniger stark eingebrochen ist.

Dass diese Entwicklung bei Gemeinderatswahlen noch deutlicher zutage tritt, kann auch auf wahlrechtliche Änderungen zurückgeführt werden. Wegen der Erweiterung des aktiven Wahlrechts auf EU-Bürger seit der Gemeinderatswahl 1999 und zuletzt auf 16- bis unter 18-Jährige erhielten Bevölkerungsgruppen mit nur unterdurchschnittlichem Wahlinteresse das Wahlrecht.

Acht Prozent der Befragten wählen grundsätzlich nicht

Nichtwähler werden in der Wahlforschung in vier Gruppen aufgeteilt. Abgesehen von der Gruppe der "unechten Nichtwähler", die beispielsweise als "Karteileichen" in den Wählerverzeichnissen immer vorkommen oder die "wider Willen" wegen einer kurzfristigen Erkrankung oder Reise nicht wählen konnten, gibt es Wahlberechtigte, die sich grundsätzlich nicht an Wahlen beteiligen, sogenannte "grundsätzliche Nichtwähler".

In der Umfrage erklären acht Prozent der Befragten, dass sie "grundsätzlich nicht wählen", weitere drei Prozent bezeichnen sich als "Wahlverweigerer" speziell bei Gemeinderatswahlen. Hierzu kann man auch Personen rechnen, die sich aus gesundheitlichen und anderen persönlichen Gründen aus dem gesellschaftlichen Leben zurückgezogen haben. Zehn Prozent der Nichtwähler in dieser Befragung, vorzugsweise Personen jenseits der Altersschwelle von 70 Jahren und Verwitwete, führen "persönliche" Gründe für ihre Wahlabstinenz an.

Große Gruppe "konjunktureller Nichtwähler"

Die meisten der Nichtwähler sind der Gruppe der "konjunkturellen Nichtwähler" zuordenbar, die sich situationsabhängig entscheiden, ob sie zur Wahl gehen oder nicht und wen sie dann wählen. Diese Menschen weisen eine geringere oder keine Parteiidentifikation auf und sind nicht oder nicht sehr stark an eine Partei gebunden.

Zu dieser Gruppe dürfte auch jenes knappe Drittel der Befragten (30 Prozent) in dieser Umfrage gerechnet werden, die als Gründe für ihre Nichtwahl vermeintliche formale Hindernisse wie Abwesenheit, keine Zeit oder fehlende Wahlunterlagen nennen. Tatsächlich war den meisten von ihnen wahrscheinlich die Wahlteilnahme nicht so wichtig.

Gesellschaftliche Veränderungen und Verhaltensnormen

Die Zahl der "konjunkturellen Nichtwähler" ist gewachsen. Das hat sicherlich auch entscheidend zum sukzessiven Anstieg der Wahlenthaltungsquoten beigetragen. Gleichzeitig dürfte diese Gruppe auch dafür verantwortlich sein, wenn es bei besonderen Wahlkampfsituationen wie bei den Landtagswahlen 2011 und 2016 in Baden-Württemberg auch einmal zu einem punktuellen Anstieg der Wahlbeteiligung im Vergleich zur Vorwahl kommt. Dies ist auf gesellschaftliche Veränderungen und auf sich verändernde Verhaltensnormen zurückzuführen.

Hier spielt das Wahlpflichtgefühl als Norm eine sehr wichtige Rolle. Dessen Verbreitung und die Intensität der Verbindlichkeit für den Einzelnen sind laut verschiedener empirischer Studien in den letzten Jahrzehnten geschwunden. Die hohe Bedeutung der Wahlpflichtnorm zeigt sich auch in dieser Erhebung eindrücklich, ebenso wie ihre generationsspezifische Ausprägung und damit die Aussicht, dass künftig mit einer weiter nachlassenden Wahlbeteiligung gerechnet werden muss.

Netzwerke wirken sich günstig aus

Grundsätzlich ist das politische Interesse ein zentraler Schlüssel zur aktiven Teilnahme an Wahlen. Viele "konjunkturelle Nichtwähler" entscheiden sich zudem bei Gemeinderatswahlen gegen eine Wahlteilnahme, weil insbesondere das Interesse an der Kommunalpolitik, an dieser bestimmten Wahl, ihrem Ausgang und ihrem Wahlkampf schlicht fehlen, die Wichtigkeit der Kommunalpolitik für einen selber nicht wahrgenommen wird und die Bedeutung der Kommunalpolitik im politischen System nicht für bedeutsam erachtet wird oder nicht eingeschätzt werden kann.

Kollektive Verhaltensnormen wie die Wahlpflichtnorm werden im Zuge der Sozialisationsphase erworben. Neben dem bildungsabhängigen Interesse an Politik begünstigen eine demokratische Wahlnorm auch Netzwerke. Wie auf der Basis dieser Befragung nachgewiesen wird, wirkt sich stimulierend für die Beteiligung an einer Wahl aus, wenn die Nachbarschaft, insbesondere aber die eigene Familie und Freunde, zur (Gemeinderats-)Wahl gehen. Dies gilt ebenso für ehrenamtliches Engagement.

Schwach ausgeprägte Parteibindungen

Ein sehr auffälliger Befund der Analyse ist, dass ein Viertel der Nichtwähler sagt, dass "sie nicht wüssten, wen sie wählen sollten" beziehungsweise annähernd ein Viertel der Voten der Nichtwähler im Rahmen der "Sonntagsfrage" für "Sonstige" abgegeben wird, das vor dem Hintergrund einer Vielzahl von Wahlvorschlägen (zwölf) und einem politisch weit gestreuten Angebot sowohl an Parteien als auch an Wählervereinigungen auf dem Stuttgarter Gemeinderatswahl-Stimmzettel. Daraus spricht nicht nur ein gewisses Maß fehlender oder sehr schwach ausgeprägter Parteibindungen, wie es für "konjunkturelle" und "bekennende Nichtwähler" typisch ist, sondern auch eine "Orientierungslosigkeit" im (kommunal-)politischen System.

Eine in die Breite gehende generelle Politikverdrossenheit oder ein grundsätzlicher Vertrauensverlust gegenüber Politik und Politikern sowie eine generelle Unzufriedenheit mit der Kommunalpolitik ist freilich nicht aus den Befragungsergebnissen herauszulesen. Die Deutung des Wahlbeteiligungsrückgangs als Legitimationskrise des politischen Systems, wie gelegentlich geschehen, erscheint daher nicht angebracht.

Nichtwähler weniger zufrieden

Nichtwähler sind eher jüngere Menschen. Geschlechtsunterschiede treten zurück. Pointiert ist das soziale Profil der Nichtwähler, es sind Arbeiter, Eingebürgerte, Schüler oder Personen ohne Schulabschluss, mit niedrigerer Bildung oder geringerem Einkommen. Dies spiegelt sich auch markant wider in der sozialräumlichen Differenzierung der Wahlbeteiligung innerhalb des Stadtgebietes. Im zeitlichen Längsschnitt wurde zudem eine deutliche Zuspitzung der Wahlenthaltungstendenz in diesen Gebieten nachgewiesen.

Hang zur "fatalistischen" Akzeptanz der Gegebenheiten

Für Thomas Schwarz, Leiter des Statistischen Amtes und Autor der Studie, lässt sich daraus jedoch nicht ohne Weiteres schlussfolgern, dass Nichtwähler sich gewissermaßen sozioökonomisch "abgehängt fühlen".

Er sagt: "Nichtwähler sind zwar hinsichtlich ihres derzeitigen Lebensstandards und der Möglichkeit der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben weniger zufrieden, sie favorisieren auch viel deutlicher einen sozial- und arbeitsmarktpolitisch 'fürsorglichen' Staat, bei der Einschätzung ihrer gesamten Lebensbedingungen gleichen sich Nichtwähler und Wähler aber nahezu in ihrer Zufriedenheit. Nichtwählern eigen ist indessen, dass sie sich deutlich schwerer tun in der Beurteilung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, mit einem Hang zur 'fatalistischen' Akzeptanz der Gegebenheiten."

Das Monatsheft Nr. 1/2016 ist beim Statistischen Amt, Eberhardstraße 39, Telefon 216-98587, Fax 216-98570, E-Mail komunisstuttgartde sowie unter www.stuttgart.de/statistik-infosystem erhältlich. Es kostet vier Euro.

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