Als Expertin für die Übersetzung russischer Literatur hat sie Werke großer Autoren wie Andrej Bitow, Gaito Gasdanow und Lew Tolstoi ins Deutsche übertragen und dabei ein außerordentliches Gespür für sprachliche Nuancen und literarische Tiefe bewiesen. Ihre 2012 erschienene Bearbeitung von Tolstois Anna Karenina war ein Bestseller und wurde als eine der bedeutendsten Neuübersetzungen der letzten Jahre gefeiert, da sie erstmals mit Anmerkungen und einem Nachwort eines Übersetzers oder einer Übersetzerin erschien.
Rosemarie Tietze studierte Theaterwissenschaft, Slawistik und Germanistik an den Universitäten von Köln, Wien und München. Ihre berufliche Laufbahn begann sie als Dolmetscherin in den Bereichen Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur, bevor sie sich ab den späten 1970er-Jahren ganz auf die Literaturübersetzung konzentrierte.
Für ihre herausragende Fähigkeit, den Geist und die Feinheiten der russischen Literatur ins Deutsche zu übertragen, wurde sie mit zahlreichen Preisen und Ehrungen ausgezeichnet. Darunter der Literaturpreis der Landeshauptstadt Stuttgart (1990), der Voß-Preis (1995), der Münchner Übersetzerpreis (2003), der Paul-Celan-Preis (2010) für ihre gefeierte Neuübersetzung von Anna Karenina und das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse (2013). Im Jahr 2021 ehrte sie der Freistaat Bayern mit der Auszeichnung „Pro Meritis Scientiae et Litterarum“, mit der Persönlichkeiten für besondere Verdienste um Wissenschaft und Kunst geehrt werden. Im Jahr 2024 erhielt sie das Arbeitsstipendium des Freistaats Bayern für ihre Erstübersetzung des Romans „Getäuscht“ von Juri Felsen.
Neben ihrer übersetzerischen Arbeit hat sich Rosemarie Tietze über viele Jahre für die Förderung ihrer Kolleginnen und Kollegen und des Übersetzerberufs eingesetzt. Von 1976 bis 1988 war sie Vorstandsmitglied im Verband deutschsprachiger Übersetzer literarischer und wissenschaftlicher Werke (VdÜ). Von 1994 bis 2001 war sie zudem Präsidentin des Freundeskreises zur internationalen Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen. Eines ihrer wichtigsten Projekte ist jedoch die Gründung des Deutschen Übersetzerfonds im Jahr 1997, dessen Vorsitz sie bis 2009 innehatte. Diese Institution unterstützt Übersetzerinnen und Übersetzer bei ihrer Arbeit und setzt sich für die Anerkennung ihrer Leistungen ein.
Ihre Leidenschaft und ihr Wissen gab Rosemarie Tietze auch als Dozentin weiter. Über zwei Jahrzehnte unterrichtete sie am Sprachen- und Dolmetscherinstitut München (SDI). Gastprofessuren führten sie an das Deutsche Literaturinstitut Leipzig und an die Freie Universität Berlin, wo sie die August-Wilhelm-von-Schlegel-Gastprofessur für Poetik der Übersetzung innehatte. An der Ludwig-Maximilians-Universität München hat sie einen Lehrauftrag im Masterstudiengang „Literarisches Übersetzen“.