Inhalt anspringen

Landeshauptstadt Stuttgart

Bildung

Lernen in der Wasenschule

Vom mitreisenden zum mitreißenden Lehrer: Michael Widmann war einst mit dem Zirkus Krone unterwegs. Heute unterrichtet er als Bereichslehrer die Kinder von Schaustellern auf dem Bad Cannstatter Wasen.

Die Bildungspaten können in der Wasenschule eher auf die Fragen einzelner Schüler eingehen, als es in einem "normalen" Schulumfeld möglich wäre.

Dazu hat er zusammen mit seiner Kollegin Sabine Biebris in Kooperation mit der Stadt ein Netz an Bildungspaten aufgebaut. Alle zusammen sorgen dafür, dass die „Wasenschule“ alles andere als alltäglich ist.

Schon an der Begrüßung hört man, dass hier eine besondere Atmosphäre herrscht. Es sind nicht die Worte, sondern wie die Kinder und Jugendlichen ihren Lehrern einen guten Morgen wünschen.  Wer hier feinfühlig hinhört, erfährt bereits viel über die Tagesform seines Gegenübers.  Eher so, wie man es vom privaten Umfeld her kennt. „Wir sind ja auch wie eine richtige, kleine  Familie“, sagt  Michael Widmann, Bereichslehrer für Kinder und Jugendliche von beruflich Reisenden.

„Wir“, das sind an diesem Freitag, 30. September, zehn Kinder von Schaustellern auf dem Cannstatter Volksfest und ebenso viele Bildungspaten – ehemalige Lehrer, Pädagogikstudenten und weitere Ehrenamtliche. Sie sehen sich nur für rund vier Wochen im Herbst und nochmal für fünf bis sechs Wochen zum Frühlingsfest. Für die Kinder von beruflich Reisenden ist das schon eine halbe Ewigkeit.

So erklärt sich auch die gute Beziehung von Lehrern und Schülern in der Wasenschule. Manche halten den Kontakt das ganze Jahr über.

Ein großer Fan der Wasenschule kommt zu Besuch

Oberbürgermeister Dr. Frank Nopper besuchte am Freitag, 7. Oktober, die Wasenschule und überbrachte die ein oder andere Leckerei für die Kinder, Jugendlichen und Bildungspaten.

"Ich bin nicht nur ein Fan des Cannstatter Volksfests, ich bin auch ein großer Fan der Wasenschule. Zum Frühlings- und Volksfest gehen die Kinder der Schausteller hier in einem Schulungsraum unserer Branddirektion zur Schule. Betreut werden sie 1:1 von ehrenamtlichen Bildungspaten - meist ehemalige Lehrer oder Pädagogikstudenten - anstatt wie sonst üblich für wenige Tage in der Klasse einer Regelschule zu lernen. Das ist bundesweit einmalig", sagte Oberbürgermeister Dr. Frank Nopper am Freitag, nachdem er am selben Tag die Wasenschule besucht hatte und sich vor Ort dankbar für den Einsatz der Bildungspaten zeigte.

Jeder lernt von jedem

Einer dieser Bildungspaten, in dem „das pädagogische Feuer noch immer brennt“, ist Uli Pfisterer. Der 70-Jährige war am Ende seiner beruflichen Laufbahn Konrektor einer Realschule. Das bundesweit einmalige Konzept der Wasenschule mit ihrer 1:1-Betreuung hat ihm sofort zugesagt. „Dadurch erfahren die Kinder Aufmerksamkeit und Wertschätzung. So entwickeln sie ein ganz anderes Selbstbewusstsein“, berichtet er. Ein Klassenlehrer, der zusätzlich zu seinen 28 Schülerinnen und Schülern noch für ein paar Tage ein weiteres, reisendes Kind aufnehmen müsse, könne das gar nicht leisten. 

Das bestätigt der 16-jährige Jason. „In einer normalen Schule setzt man uns in eine Ecke. Dort arbeiten wir die Aufgaben ab, die wir von unserer Stammschule bekommen haben, und wenn wir uns melden, weil wir eine Frage haben, kommt irgendwann ein Lehrer vorbei.“ Kein Wunder also, dass er in den zwei Stunden, die er täglich in der Wasenschule verbringt, mehr lernt als an einem ganzen Vormittag in der Regelschule.  

Nebenan lernt derweil Christel Eisenmann-Rau. Eigentlich arbeitet die 76-Jährige mit dem 13-jährigen Pauli gerade an einem Erlebnisbericht. Stattdessen zeigt der Jugendliche der pensionierten Grund- und Hauptschullehrerin jedoch, wie man mit dem Internet umgeht. So ist das an der Wasenschule. Hier lernt jeder von jedem. Ganz besonders am Vortag, als die Kinder und Jugendlichen die Verantwortung übernommen haben und ihre Bildungspaten über das Festgelände geführt haben. „Dort waren sie plötzlich diejenigen, die sich auskennen, und die Bildungspaten haben neue Erfahrungen gemacht“, berichtet Widmann.   

Wie bereichernd dieser gegenseitige Austausch ist, belegt eindrucksvoll Jan-Philipp Kraft. Der 40-jährige Bankangestellte nimmt eigens Urlaub, um als Bildungspate tätig werden zu können. Jetzt genießt er die Freiheit, vom Lehrplan abweichen zu können, Stoff nachzuholen, an den sich die Kinder nicht mehr erinnern oder von dem sie noch nie gehört haben, obwohl sie es altersgemäß hätten müssen. „Es ist schön zu sehen, wenn sich dann plötzlich Aha-Erlebnisse einstellen“, so Kraft.

Großes Netzwerk an Bildungspaten

Untergebracht ist die Wasenschule hinter einer unscheinbaren Pforte im Schulungsraum der Branddirektion Stuttgart. Unterrichtet werden dort aktuell rund 30 Schülerinnen und Schüler aus den Klassenstufen eins bis zehn in allen Niveaustufen. Für den reibungslosen Ablauf verantwortlich sind die Bereichslehrerin Sabine Biebris und Bereichslehrer Michael Widmann. Sie können sich dabei auf ein großes Netz an Bildungspaten verlassen sowie auf eine Kooperation mit der Stadt. Erst dieser Tage war Schulbürgermeisterin Isabel Fezer vor Ort, hat Pausenspiele verschenkt, die „super ankommen“, erzählt Widmann. 

Wie überhaupt die „Wasenschule“ super anzukommen scheint. Garantiert sie den reisenden Familien doch, dass die Kinder mit unterwegs sein können, statt irgendwo bei Verwandten zu bleiben, um dort die Stammschule aufsuchen zu können. „Wir ermöglichen also mit der Wasenschule ein normales Familienleben, weshalb sich viele Schaustellerfamilien in Stuttgart auch so wohl fühlen“, sagt Widmann.  Die Zahlen geben ihm recht. Die Steigerung der Schülerzahl um über 60 Prozent im Verhältnis zum Frühlingsfest 2016 belegt die Sinnhaftigkeit des Konzepts, urteilen Widmann und Biebris unisono.

Das könnte Sie auch interessieren

Erläuterungen und Hinweise

Bildnachweise

  • Dominik Thewes/Stadt Stuttgart
  • Ferdinando Iannone
  • Christoph Düpper/Stuttgart Marketing
  • Stadt Stuttgart
  • Getty Images/fotografixx