Für manche Menschen sind die Tage so voller Leben, dass sie früh beginnen müssen. Es ist gegen 7.30 Uhr, als Renate Betzwieser an diesem Dienstag ihre Stempelkarte ans Lesegerät im Rathaus hält. Draußen beginnt der Trubel des Wochenmarktes, drinnen wirbelt Betzwieser. Sie ist Assistentin der Amtsleitung, Geschäftsführerin des Personalbeirats, ausgebildete ehrenamtliche Klinikseelsorgerin und meist voller Energie und Freude: „Inhaltlich brauche ich mehr“, sagt sie. Deswegen hat sie ein weiteres Hobby in ihren Beruf reingepackt und begleitet Rathaustouristen auf den Turm über dem Marktplatz.
Mit dem historischen Paternoster fährt Betzwieser vom Erdgeschoss des Rathauses in den vierten Stock. Schon hier: die Welt wird kleiner. Die grün-weißen Stoffdächer der Beschicker legen sich wie eine Decke über das Gewusel des Marktes. Es geht zu Fuß weiter: Zwei mal rechts um die Ecke, getarnt in einer holzvertäfelten Wand, öffnet sich die Tür zum Turm. Seit drei Jahren arbeitet die Bürokauffrau und Fachpädagogin bei der Stadt, fast 2000 Höhenmeter hat sie als Turmführerin absolviert. „Mir macht das wahnsinnig Spaß“, sagt die 53-Jährige, die fast nichts aus dem Tritt bringt. Im steinernen Zickzack führen die Stufen nach oben.
Einblicke in die Geschichte des Rathauses und Ausblicke über die Stadt
Auf der Aussichtsetage angelangt, lassen historische Fotos und Erklärtafeln an den Wänden in die bewegte Geschichte des Rathauses seit 1466 blicken: Das alte Rathaus in flämischer Gotik, erbaut um die Jahrhundertwende; der Abbruch der zertrümmerten Front nach dem Krieg; die Einweihung des neuen Gebäudes 1956; der Marktplatz zugeparkt mit Brezelfensterkäfern.
Im gusseisernen Rund führt eine Wendeltreppe weiter hoch zum Arbeitsplatz der Glöcknerin von Stuttgart. Dank Tasteninstrument und elektrischer Steuerung muss sich niemand mehr in die Seile hängen. „Herzliebchen mein unterm Rebendach“, „Droben auf der rauen Alb“ und andere Weisen werden hier von Klöppeln in Musikgeläut übersetzt.
Nach 172 Stufen hat man es ganz nach oben geschafft. Hinter den Glocken des Turms und geflochteten Drähten zwischen Mauern, sieht man die Hänge Stuttgarts. „Im Sommer ist das der perfekte Arbeitsplatz“, sagt Betzwieser fröhlich. Von hier will nur schnell wieder weg, wer die Wintertour gebucht hat und im eisigen Wind friert. Oder wer just dann oben steht, wenn das Glockenspiel angeschlagen wird und direkt neben den Ohren dröhnt. (fip)